Ein Drahtseilakt zwischen Anregung und Erschöpfung
Selbstverständlich gibt es auch unter Hochsensiblen introvertierte und extrovertierte Menschen.
Extrovertierten Hochsensiblen merkt man ihre Sensitivität am wenigsten an. Sie wirken stark, sind kommunikativ und gern unter Menschen. Sie nähren sich wie normalsensible Extrovertierte von den Begegnungen mit anderen. Sie geben gern und viel, sind oft aufmerksame Zuhörer und gute Unterhalter.
Auch, wenn ich mich selbst eher als introvertierte Hochsensible sehe, habe ich doch extrovertierte Anteile, die gelebt werden wollen. Deshalb wird mir immer wieder vor Augen geführt, dass sich die extrovertierteren Hochsensiblen in einem ganz besonderen Spannungsfeld befinden. Denn sie nehmen als Hochsensible ohnehin schon viele äußere Reize in sich auf, die es zu verarbeiten gilt. Und der so geliebte Kontakt mit anderen Menschen bietet jede Menge zusätzliche Informationen und Eindrücke.
So entsteht ein betrübliches Dilemma: Extrovertierte Hochsensible brauchen die Begegnungen und Interaktionen mit anderen für ein erfülltes Leben. Gleichzeitig erschöpfen sie die vielen Eindrücke, die ihre Vorliebe mit sich bringt.
Warum extrovertierte Hochsensible burnoutgefährdet sind
Deshalb sind extrovertierte Hochsensible in besonderem Maße stress- und burnoutgefährdet. Wie Drahtseiltänzer bewegen sie sich ständig zwischen der Sehnsucht nach Begegnung und Erlebnissen und dem Bedürfnis nach Rückzug für die Verarbeitung der vielen Reize. Gelingt der Balanceakt nicht, ist die Erschöpfung vorprogrammiert.
Besonders schwierig wird es dann, wenn extrovertierte Hochsensible nicht um die eigene Sensitivität wissen. Dann nämlich werden sie sich wundern, warum die meisten anderen kontaktfreudigen Menschen um sie herum nach intensiven Begegnungen viel weniger erschöpft zu sein scheinen als sie selbst. Der Rückschluss lautet in vielen Fällen: „Da stimmt etwas nicht mit mir.“ oder „Jetzt muss ich mich zusammenreißen, die anderen schaffen das ja auch.“ Das führt im allgemeinen dazu, dass der Wunsch nach Ruhe zunächst übergangen und später gar nicht mehr wahrgenommen wird. Das führt unweigerlich zu Überlastung und – werden die Zeichen nicht geachtet – zu Krankheit und Erschöpfung.
Raus aus der Erschöpfungsfalle
Die Lösung des Dilemmas ist wie immer ganz einfach und doch gar nicht so leicht umzusetzen. Ob hochsensibel oder normalsensibel, es geht immer darum, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu wahren. Den zarten Stimmen von Herz und Bauch zu lauschen und darauf zu achten, dass sie nicht im Lärm der Gedanken und Alltagsgeschehnisse untergehen.
Viele Hochsensible, ob introvertiert oder extrovertiert, sind sich ihrer besonderen Sensitivität nicht bewusst und handeln deshalb oft so, wie sie es von Normalsensiblen vorgelebt bekommen. Die Erkenntnis, hochsensibel zu sein und das Wissen darum, was Hochsensibilität mit sich bringt, kann schon sehr helfen, die eigenen Grenzen besser zu erkennen und zu achten.
Für mich war das Wissen um meine Hochsensibilität ungeheuer wertvoll. Ich war und bin unendlich erleichtert zu wissen, „was mit mir los ist“, „warum ich bin wie ich bin“ und „dass ich nicht allein mit meinen Ein- und Ansichten bin“.
Dennoch scheint es das größte Lernthema meines Lebens zu sein, meine Balance zu wahren. Und der Schlüssel für meine Balance liegt tatsächlich nicht nur im Lauschen und Achten meiner inneren Stimme, der Meditation, der „seelischen und energetischen Hygiene“.
Der Schlüssel für ein Leben in erfüllter Balance liegt in der Akzeptanz meiner Andersartigkeit. Darin, dass ich mir aus vollem Herzen zugestehe und erlaube, mir die Freiräume zu nehmen, die ich brauche. Ohne schlechtes Gewissen. Zum Beispiel hellen, großzügigen Wohnraum – auch im teuren Münchener Umland. Natur um mich herum – auch, wenn ich dann mit meiner Praxis etwas ab vom Geschehen bin. Aus- und Rückzugzeiten – auch dann, wenn mich Freunde und Familie „brauchen“. Innere Reifungs- und Wachstumszeiten – auch wenn die finanziellen Rücklagen schwinden …
Und so wünsche ich dir, ob du nun introvertiert oder extrovertiert bist oder von beidem etwas in dir trägst, dass dir dein Drahtseilakt gelingen möge. Dass du deine einzigartige Spürigkeit erkennst und schätzen lernst, dass du deiner inneren Stimme lauschen und dass du ihre Besonderheiten akzeptieren kannst. Dass du dir erlaubst, ganz du selbst zu sein. Immer wieder und gerade in herausfordernden Situationen!
Lebe dein zarte Stärke!
Alles Liebe, deine Inga
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Birgit C. Schryvers (Mittwoch, 06 April 2016 17:40)
Liebe Inga,
Dein Newsletter kam genau zur richtigen Zeit: Grenzen erkennen und den Schlüssel in erfüllter Balance suchen mit Akzeptanz meiner eigenen Andersartigkeit. Danke dafür !! Lieber Gruss
Birgit
Inga (Donnerstag, 07 April 2016 11:57)
Liebe Birgit,
herzlichen Dank für dein Feedback zum Newsletter und zu diesem Artikel!
Alles Gute für deinen "Drahtseilakt"!
Inga
Barbara Knupper (Donnerstag, 07 April 2016 16:07)
Danke liebe Inga für diese Gedanken! Das bestätigt mich in meiner eigenen Wahrnehmung! Es tut immer gut zu wissen, dass man nicht alleine ist.
Herzliche Grüße, Barbara
Sabine (Sonntag, 07 Oktober 2018 09:27)
Liebe Inge,
Es ist tatsächlich ein anstrengender Drahtseilakt. Mein Ex Mann sagte zu mir, wenn ich mich nach einem Tag mit Freunden erschöpft und fast schon depressiv war. Sabine, das ist völlig normal, Du hast an diesem Abend zu viel Glückshormone ausgeschüttet und es ist normal, wenn es Dir heute nicht so gut geht. Im Prinzip hast Du zu viel Glückshormone ausgeschüttet. Der Spiegel muss wieder aufgebaut werden.
Es ist wirklich anstrengend für mich, zu viele Menschen, zu viele Reise. Aber dadurch, dass ich es einerseits brauche den Kontakt zu Menschen und weiß, dass mich mein eigenes Bedürfnis meistens an die eigenen Grenzen führt, ziehe ich mich hin und wieder zurück und lasse meine innere Stimme lauter werden.
LG Sabine
Inga Dalhoff (Mittwoch, 10 Oktober 2018 10:24)
Liebe Sabine,
was für eine schöne Erklärung, die dein Exmann beigesteuert hat. :-) Und danke, dass du deine Erfahrungen hier mit uns teilst. Sicherlich geht es ganz vielen extrovertierten Hochsensiblen wie dir.
Mögest du den Drahtseilakt entspannt, mit Freude und Leichtigkeit bewältigen und mögest du dich immer frei fühlen, deinen unterschiedlichen inneren Anteilen ausreichend Raum zu schenken.
Alles Liebe, deine Inga
Manuela (Sonntag, 02 Juni 2019 14:44)
Vielen Dank, sehr interessanter Artikel!
Mein Schwester (introvertiert) und ich (extrovertiert) sind beide HSP und kämpfen mit vielen Schwierigkeiten, vor allem im Beruf. Zu hell, zu laut, zu viele Menschen, niemals Ruhe, um sich konzentrieren zu können.
Wir sind beide abends so fertig, dass wir nur noch auf das Sofa fallen. Meine Schwester ist 7 Jahre jünger und schafft es, gelegentlich auszugehen oder zu shoppen.
Ich muss mich so oft wie möglich komplett zurückziehen und meine Ruhe haben, mich zuhause in der Stille so weit auftanken, dass ich Montags wieder performen kann�
Ich freue mich, mehr von Dir zu lesen, liebe Grüße aus Hamburg von Manuela �♀️
Inga Dalhoff (Dienstag, 11 Juni 2019 10:22)
Liebe Manuela,
was du beschreibst, kenne ich sehr gut aus meiner Zeit als Vollzeitangestellte. Obwohl ich gemessen an vielen anderen Berufstätigen gute Arbeitsbedingungen hatte, war ich abends so erschöpft, dass ich kaum etwas in meiner Freizeit unternehmen konnte. Mittwochs bin ich immer sehr früh ins Bett gegangen, um den Rest der Woche meistern zu können. Alles wurde der beruflichen Tätigkeit untergeordnet, damit ich genügend Kraft für sie aufbringen konnte.
Seit 2003 bin ich selbstständig und kann mir meinen Tag frei einteilen und die Dinge tun, die meinen Talenten entsprechen und mir und anderen Freude schenken. Das empfinde ich als unfassbares Geschenk und wünsche auch dir und deiner Schwester, dass ihr einen Rhythmus für euch findet, der euch wohltut und eure wahren Talente zum Strahlen bringt. In der Natur zu sein, hat mir Zeit meines Lebens die nötige Kraft geschenkt. Vielleicht geht es euch ähnlich?
Alles Liebe und danke für deinen Kommentar - hier und an anderer Stelle in meinem Blog.
Deine Inga
Sabine (Sonntag, 30 Juni 2019 23:09)
4.
Liebe Sabine,
Deine Geschichte könnte meine sein. Sogar unsere Namen sind identisch.
Mein Ex- Mann sagte dasselbe nach Feiern zu mir, bei denen ich meistens, ohne etwas zu merken, über meine Grenzen hinausging, um am nächsten Tag depressiv im Bett oder auf der Couch zu liegen.
Mich belastet es stark, dass ich von Anderen völlig falsch eingeschätzt werde und nach außen tougher wirke, als ich mich innerlich fühle.
Ach, ich bin ein Fettnäpfchen Seeker. Selbst, wenn es noch so winzig ist, ich trete rein.
Am allerschrecklichsten finde ich das Analysieren, meistens bringe ich Tage bis Wochen damit zu tun und entwickele Existenz Ängste .
Den größten Vorteil sehe ich darin, dass sich unauthentische/ falsche Leute von mir fernhalten. Schön, dass es Menschen, wie Euch gibt.
LG Sabine
Jesse (Donnerstag, 29 August 2019 16:31)
Da musste ich 45 Jahre alt werden, um mit mir im Reinen zu kommen. Der Alltag, in dieser hektischen und lauten Welt voller extern gesetzer Termine, erschlägt mich nahezu. Immer mehr schaffe ich es doch, mich zu fokussieren und Eindrücke auszublenden, die mir persönlich nicht weiter helfen. Wenngleich ich dann das Gefühl habe, unfreundlich nach außen zu wirken. Was nicht stimmt, wurde mir gesagt. Immer mehr schaffe ich es, belastungsteiche Tage zu erkennen und anschließend eine Entschleunigung zuzulassen.
Aber worauf ich richtig stolz bin, ist, dass ich gerne empfindsam bin und dadurch ganz eng mit meiner Familie verbunden bin oder in vielen Konfliktsituationen schon gut eingestellt bin und dann entsprechend reagieren kann.
Lasst uns unseren Wert mehr genießen!
Stilla (Freitag, 13 Dezember 2019 10:12)
Genau richtig. Ich habe lange Jahre geglaubt, ich wäre introvertiert, und dadurch keinerlei Gespür für meine Kraftquellen gehabt. Extrovertiert und hochsensibel ist wirklich eine fiese Kombination!
Inga Dalhoff (Freitag, 13 Dezember 2019 11:37)
Liebe Stilla,
ja, beides in Kombination braucht viel Achtsamkeit und ist ein herausfordernder Drahtseilakt. Aber beide Qualitäten sind auch so wundervolle Geschenke - für dich und die Menschen um dich herum.
Möge es dir stets gelingen, deine Balance zu halten.
Alles Liebe, deine Inga
Lenny (Donnerstag, 16 April 2020 22:57)
Wäre ich mal schon vor genau 2 Jahren auf diesen Beitrag gestoßen. Aber es findet einen wohl immer zur richtigen Zeit.
Vor ein paar Wochen hörte ich es wieder hochsensibel. Hmm ... Ich fand mich in vielen Dingen wieder aber es widersprach sich aber auch so sehr. Das Wort war aber wie ein Echo in meinem Kopf.
Wie der Zufall es wollte, habe ich heute einen Persönlichkeitstest gemacht (von Stefanie Stahl). Jap, ich bin extrovertiert. Das passt doch nicht mit hochsensibel, oder? Fragen wir mal Dr. Google, kann ja nicht schaden.
Dieser Artikel spricht mir aus der Seele ...
Und auf einmal wie Puzzleteil. Darum fallen mir auf kleinen Party die Augen zu? Darum werde ich nach einiger Zeit mit Leuten in einem Ferienhaus unruhig und etwas aggressiv? Darum ist das Ticken einer Uhr ein Foltermittel für mich? Darum falle ich immer wieder in diese "Löcher" und stehe ein paar Tage neben mir und auf einmal nach etwas Ruhe, Zack da ist die Powerfrau wieder?
Vor ein paar Minuten war ich mir noch nicht sicher. Bilde ich mir das alles ein? Wie wenn man nach einer Krankheit googelt. (Nur ein Beispiel. Nicht das Hochsensibilität eine Krankheit ist) aber umso mehr ich nachdenke, umso mehr Situationen fallen mir ein.
Danke für diesen wertvollen Blog Beitrag.
Lieben Gruß
Lenny
Inga Dalhoff (Freitag, 17 April 2020 14:01)
Danke für dein Teilen, liebe(r) Lenny!!! Mögest du dir immer treu bleiben können und dich an deiner so wertvollen Kombination von Extroversion und Sensibilität erfreuen können!
Alles Liebe, deine Inga
Katja Buck (Dienstag, 15 September 2020 13:31)
1000 Dank für Deinen Beitrag, hätte ich ihn doch viel früher gelesen.
Er hat mir geholfen meinen 8 jährigen Sohn besser zu verstehen. Jetzt finden wir eine gute Balance zwischen voll aufdrehen und zur Ruhe kommen.
Danke und liebe Grüße,
Katja
Inga Dalhoff (Dienstag, 15 September 2020)
Wie schön, liebe Katja! Das freut mich sehr zu hören! :-)
Habt eine wundervolle Zeit miteinander, ganz in eurer Balance, alles Liebe, deine Inga
Nicole (Mittwoch, 16 September 2020 15:37)
Schade das mein Beitrag gelöscht wurde, warum weiß ich nicht.
Inga Dalhoff (Donnerstag, 17 September 2020 09:49)
Liebe Nicole,
kann es sein, dass dein Kommentar beim Scannertest zu finden ist? Dort hat nämlich eine Nicole über ihr ScannerSein und ihr Leben als extrovertierte Hochsensible geschrieben. ;-)
zart starke Grüße, deine Inga
Kathia (Dienstag, 10 Januar 2023)
Extrovertiert schließt introvertiert verrückter Weise nicht aus. Ich bin beides hochgradig. Ich liebe Welt, das unergründliche Leben und ihre Lebewesen, das alles unerträglich schön und zugleich unerträglich seelisch grausam sein kann. - Der stabile verlässlich wunderbare Teil sind die Natur und der Umstand, ein Lebewesen in ihr zu sein, mit autonom bewegbaren ästhetischen Körpern und Geist, der die Sinneseindrücke einsaugen, leben und lieben kann. - Auch Menschen vereinzelt gehören zu schönen Erlebnissen. - Diese stellen aber den unverlässlichen schönen Teil der Wahrnehmungen dar und veranlassen Hochsensible immer wieder, an sich zweifeln zu wollen, an ihnen verzweifeln zu wollen und lieber nicht zwei oder viele sein zu wollen. Wobei es zwei für Hochsensible ohnehin eigentlich nicht gibt, denn ist ein wunderbarer Leidenschaft erweckender Mensch getroffen, so gibt es schwerlich die Grenze, die beide zwei sein lässt und der grenzenlos liebende leidenschaftliche Hochsensible zieht den anderen in seinen Sog und lässt ihn zu einer Symbiose verschmelzen.
Inga Dalhoff (Donnerstag, 12 Januar 2023 10:40)
Liebe Kathia,
was für wundervolle Worte. Danke, dass du sie hier mit uns teilst!
Alles Liebe, deine Inga